Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Deutschland
In den Hochschulgesetzen der Bundesländer wird eine Anwesenheitsverpflichtung Studierender unterschiedlich gehandhabt. In einigen Bundesländern ist die Anwesenheit verpflichtend, in anderen verboten, in wiederum anderen wird diese Entscheidung in den Verantwortungsbereich der Hochschule gelegt (z.B. Schlotheuber, 2017). Wird eine regelmäßige Anwesenheit bildungspolitisch oder durch die Entscheidung der Hochschule in den Verantwortungsbereich der Studierenden gelegt, stellt sich die Frage, wie Studierende mit dieser Verantwortung umgehen.
Das Modell zur Wirkungsanalyse des Hochschulunterrichts (Helmke & Schrader, 2010) setzt einen geeigneten Rahmen, um die Gründe, die Studierende für ihre An- und Abwesenheit anführen, zu kategorisieren und zu analysieren. Wesentliche Aspekte des theoretischen Rahmenmodells sind kontextuale Faktoren (z.B. fachlicher Kontext), individuelle Studienbedingungen (z.B. finanzielle Situation) und Lernvoraussetzungen (z.B. motivationale Merkmale), die Qualität des Lehrangebots, die Persönlichkeit und Expertise der Lehrperson, die Nutzungsmöglichkeiten der Lehrveranstaltung (z.B. aktive Mitarbeit) sowie die vom Veranstaltungsbesuch erwarteten Effekte (z.B. Erwerb von Fachwissen).
Bisher liegen nur wenige empirische Studien zu Gründen der An- oder Abwesenheit von Studierenden vor. Diese wenig aktuellen Studien sind vornehmlich quantitativ ausgerichtet und stammen überwiegend aus dem angloamerikanischen Hochschulraum (z.B. Gump, 2004; Sleigh et al., 2002; Friedman et al., 2001; Dillon, 1998; van Blerkom, 1992; McCutcheon & Beder, 1987). Weiterhin sind sie dadurch gekennzeichnet, dass sie eher punktuell im jeweiligen Lehr-/Lernbetrieb auf Basis des Interesses einzelner Lehrpersonen entstanden und sowohl theoretisch als auch methodisch nicht ausreichend elaboriert sind.
Um die Frage nach den Gründen der An-/Abwesenheit von Studierenden im deutschen Hochschulsystem zu analysieren, wurde eine qualitative online-Befragung durchgeführt, an der 107 Studierende der Erziehungswissenschaft teilnahmen. Anstatt festgelegte Gründe zu bewerten, konnten die Befragten ihre persönlichen Gründe für ihre An-/Abwesenheit offen darlegen. Dazu gaben sie an, welche Faktoren sie als förderlich (z.B. spannender Inhalt) und welche Faktoren sie als hinderlich (z.B. Nebenjob) für eine regelmäßige Anwesenheit in universitären Lehrveranstaltungen erachten. Die Befragten waren im Schnitt 22,6 Jahre alt (min. 18, max. 35) und zu 85,9% weiblich (9,4% männlich, 4,7% keine Angabe). Die Daten wurden mit der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) und einem deduktiv-induktiven Kategoriensystem ausgewertet. Zur Erstellung der deduktiven Kategorien wurde das Rahmenmodell von Helmke & Schrader (2010) sowie bereits bestehende empirische Erkenntnisse verwendet.
Die Ergebnisse zeigen, dass die angeführten förderlichen und hinderlichen Faktoren für eine An-/Abwesenheit allen Bereichen des Rahmenmodells zugeordnet werden können. Die Begründungen beziehen sich vornehmlich auf Merkmale, die direkt die Lehrqualität betreffen oder sich auf die eigenen Studien- und Lernvoraussetzungen beziehen. Darüber hinaus werden vielfältige und individuell unterschiedliche Aspekte, z.B. das Wetter oder die Relevanz einer Lehrveranstaltung, benannt. Hinderliche Faktoren für die Anwesenheit sind hierbei insbesondere andere Verpflichtungen, Krankheit, mangelndes Interesse am Lehrstoff oder die Nutzung von Selbstlernarrangements. Studierende sind eher anwesend, wenn sie motiviert sind, die Qualität der Lehre gut ist, sie aktiv mitarbeiten können und sie eine Prüfungsleistung erbringen müssen.
Insgesamt wird deutlich, dass eine Vielzahl an unterschiedlichen Aspekten für die Entscheidung regelmäßig anwesend zu sein herangezogen wird. Implikationen für die hochschulische Praxis, beispielweise für die Gestaltung der Hochschullehre und die Bereitstellung von Unterstützungsstrukturen für Studierende werden diskutiert. Weitere anknüpfbare Forschungsfragestellungen werden dargelegt.
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Interessanter Beitrag – weiterführende Frage
Danke, liebe Frau Wepeler, für den interessanten Beitrag. Können Sie vor dem Hintergrund Ihrer Studie Aussagen dazu treffen, ob es Unterschiede gibt hinsichtlich des Besuchs von Vorlesungen und anderen Formaten wie Seminaren, Kolloquien etc.? V.a. dann, wenn Vorlesungen auch digital/online zur Verfügung stehen und somit „später und an anderem Ort“ angesehen werden können?
Entschuldigen Sie bitte den Tippfehler in Ihrem Namen, liebe Frau Weßeler!
Liebe Frau Sommer,
in unserer Untersuchung haben wir Angaben zu den beiden Lehrveranstaltungsformen „Seminar“ und „Vorlesung“ gesammelt. Es haben sich jedoch keine wesentlichen Unterschiede ergeben. Die förderlichen und hinderlichen Faktoren wurden für beide Veranstaltungsformen am häufigsten den individuellen Lernvoraussetzungen, gefolgt von den individuellen Studienbedingungen zugeordnet. Auch inhaltlich liegen keine Unterschiede vor.
Ein kleiner Unterschied ergibt sich in den Personenanteilen: Ungefähr 10% mehr Befragte führen Begründungen im Bereich der individuellen Studienbedingungen, der individuellen Lernvoraussetzungen sowie der Persönlichkeit/Expertise der Lehrenden für das Seminar an. Umgekehrt benennen ungefähr 10 % mehr Befragte die Qualität des Lehrangebots für die Vorlesung als für das Seminar.
Möglicherweise ziehen die Studierenden im Seminar basierend auf der eher individuellen Situation (z.B. wenige Teilnehmende, mehr Diskussionen und Austausch) auch eher individuelle Bedingungen zur Anwesenheitsentscheidung heran als in Vorlesungen, in denen eine höhere Anonymität gegeben ist. Auch steht eher die Persönlichkeit und Expertise der Lehrenden bei den Faktoren des Seminars im Vergleich zur Vorlesung im Fokus, was möglicherweise auf den erhöhten Gestaltungsspielraum der Lehre durch die Lehrperson in Seminaren als in Vorlesungen zurückzuführen ist.
Der Aspekt der Digitalisierung von Lehrveranstaltungen wurde durch die Befragten nicht explizit angeführt. Dies kann natürlich daran liegen, dass die Befragten bisher keine Lehrveranstaltung mit Veranstaltungsaufzeichnung besucht haben. Ich denke aber auch, dass die Digitalisierung universitärer Lehre durchaus einen Einfluss auf die (freiwillige) Anwesenheit haben kann.
Herzlichen Dank für Ihre Anregungen!
Jennifer Weßeler schrieb:
Liebe Frau Sommer,
in unserer Untersuchung haben wir Angaben zu den beiden Lehrveranstaltungsformen „Seminar“ und „Vorlesung“ gesammelt. Es haben sich jedoch keine wesentlichen Unterschiede ergeben. Die förderlichen und hinderlichen Faktoren wurden für beide Veranstaltungsformen am häufigsten den individuellen Lernvoraussetzungen, gefolgt von den individuellen Studienbedingungen zugeordnet. Auch inhaltlich liegen keine Unterschiede vor.
Ein kleiner Unterschied ergibt sich in den Personenanteilen: Ungefähr 10% mehr Befragte führen Begründungen im Bereich der individuellen Studienbedingungen, der individuellen Lernvoraussetzungen sowie der Persönlichkeit/Expertise der Lehrenden für das Seminar an. Umgekehrt benennen ungefähr 10 % mehr Befragte die Qualität des Lehrangebots für die Vorlesung als für das Seminar.
Möglicherweise ziehen die Studierenden im Seminar basierend auf der eher individuellen Situation (z.B. wenige Teilnehmende, mehr Diskussionen und Austausch) auch eher individuelle Bedingungen zur Anwesenheitsentscheidung heran als in Vorlesungen, in denen eine höhere Anonymität gegeben ist. Auch steht eher die Persönlichkeit und Expertise der Lehrenden bei den Faktoren des Seminars im Vergleich zur Vorlesung im Fokus, was möglicherweise auf den erhöhten Gestaltungsspielraum der Lehre durch die Lehrperson in Seminaren als in Vorlesungen zurückzuführen ist.
Der Aspekt der Digitalisierung von Lehrveranstaltungen wurde durch die Befragten nicht explizit angeführt. Dies kann natürlich daran liegen, dass die Befragten bisher keine Lehrveranstaltung mit Veranstaltungsaufzeichnung besucht haben. Ich denke aber auch, dass die Digitalisierung universitärer Lehre durchaus einen Einfluss auf die (freiwillige) Anwesenheit haben kann.
Herzlichen Dank für Ihre Anregungen!