Balthasar Eugster
Universität Zürich, Schweiz
Wissenschaft ist Wissenskritik, weil wissenschaftliches Wissen die Welt als Tatsachen zu begreifen und zu beschreiben versucht und diese Tatsächlichkeit zugleich radikal zur Disposition stellen muss. Wissenschaftliches Wissen will kanonisiert und immer auch in methodischer Strenge hinterfragt sein, denn nur in dieser Selbstbezweiflung weist es sich in seiner Wissenschaftlichkeit aus. Es kann sich nicht auf Referenzen außerhalb seiner selbst berufen und ist sich selber grundlose Autorität der (Selbst-)Kritik. Das Lehren dieses Wissens kann als die Vermittlung der Wissenskritik und seine Didaktik – also die Hochschuldidaktik – als die Didaktik der Wissenskritik verstanden werden (Eugster & Tremp, 2018). Diese will ergründen und für die Praxis nutzbar machen, wie die Kritik des wissenschaftlichen Wissens zum lehr- und lernbaren Gegenstand wird, und wie die Prozesse des Lehrens und des Lernens auszugestalten sind.
Eine systematische Erforschung der Hochschullehre kann daran anknüpfen, indem sie die Bedingungslagen und Prozessualitäten der Kritik des Wissens in ihrer historischen Entwicklung nachzeichnet, deren aktuelle Konstellationen aufspürt und Entwicklungsräume zu skizzieren versucht. Einen solchen Ansatz in der Hochschul(bildungs)forschung kann man als «Rekonstruktion der Wissenskritik» konzipieren und daraus eine Forschungsmethode ableiten (Tremp & Eugster, 2019). Darin geht es um das Aufspüren der Genealogien und um das Sichtbarmachen jenes Selbstbezugs des wissenschaftlichen Wissens, das in seinen Begründungsansprüchen immer nur auf sich selbst verweisen kann und dabei institutioneller bzw. kultureller Kognitions- und Sozialformen bedarf, welche die Referenzlosigkeit des wissenschaftlichen Wissens allererst handhabbar machen. Die Rekonstruktion der Wissenskritik zielt auf die Freilegung und Analyse der historischen und gegenwärtigen Strukturen, Dynamiken und Praktiken des sich selbst bezweifelnden und gleichwohl selbstbewussten wissenschaftlichen Wissens.
Der Vortrag diskutiert ausgewählte historische Beispiele solcher lebensweltlicher Ausformungen der referenzlosen (Selbst-)Kritik des wissenschaftlichen Wissen, die nicht bloß die – im engeren Sinne – wissenschafts- oder erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des wissenschaftlichen Wissens, sondern vor allem auch dessen weitere Bedingungslagen erkennbar machen und strukturelle und prozessuale Einflussfaktoren der Makroebene von Hochschulen und ihrer Lehrbedingungen herausarbeiten – so etwa das Zusammenspiel der Lehrformen in der mittelalterlichen Universität, die Bedeutung von Kompilation und Eklektik für die Produktion und Weitergabe des Wissens im 18. Jahrhundert oder auch die wissenstheoretische Deutung der architektonischen Gestaltung von Forschungs- und Lehr-Lernräumen. Auf dieser Basis sollen die methodologischen Merkmale einer Rekonstruktion der Wissenskritik umrissen und das Potenzial diskutiert werden, das ein solcher Zugang zur Hochschulbildungsforschung ins Spiel bringen kann. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die methodische Relevanz der Wechselwirkung von empirischer Wissen(schaft)sforschung und allgemeiner Bildungstheorie gerichtet, die der Rekonstruktion der Wissenskritik Anspruch und besondere Herausforderung ist.
Literatur:
Eugster, B. & Tremp, P. (2018). Lehre als Zugang zum Fach. Plädoyer für eine didaktische Wissenschaftssozialisation. In M. Weil (Hrsg.), Zukunftslabor Lehrentwicklung. Perspektiven auf Hochschuldidaktik und darüber hinaus (S. 75-93). Münster: Waxmann.
Tremp, P. & Eugster, B. (2019). Lehr- und Lernfreiheit. Bildungskonzeptionelle Überlegungen als Beitrag zur hochschuldidaktischen Forschung. In T. Jenert, G. Reinmann & T. Schmohl (Hrsg.), Hochschulbildungsforschung. Theoretische, methodologische und methodische Denkanstöße für die Hochschuldidaktik (S. 41-56). Wiesbaden: Springer VS.
Themenbereiche
- Makroebene
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- T1 Vorträge 1 (10∶15 11∶30)
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