Relevanz und Fragestellung
Unter den rund 2,8 Millionen Studierenden in Deutschland befinden sich ca. 11 Prozent Studierende mit Behinderungen im Sinne studienrelevanter gesundheitlicher Beeinträchtigungen (Poskowsky et al., 2018). Laut Hochschulrahmengesetz (§ 2, Abs. 4) gehört es zu den Aufgaben der Hochschulen dafür zu sorgen, „dass behinderte Studierende in ihrem Studium nicht benachteiligt werden und die Angebote der Hochschule möglichst ohne fremde Hilfe in Anspruch nehmen können“. Ein zentrales Instrument, um Studierenden mit Behinderungen die chancengerechte Teilhabe am Studium zu ermöglichen, ist die Gewährung von Nachteilsausgleichen. Dabei kommt sowohl bei der proaktiven Bekanntmachung der Möglichkeit von Nachteilsausgleichen als auch bei deren konkreter Umsetzung den Hochschullehrenden eine wichtige Rolle zu. In ihrer Erklärung „Eine Hochschule für Alle“ von 2009 fordert die Hochschulrektorenkonferenz: „Lehrende sollten es als Teil ihres Lehrauftrags ansehen, in Lehre und Beratung systematisch die besonderen Belange der Studierenden mit chronischer Krankheit einzubeziehen […] Entscheidend ist, dass Lehrende und Studierende mit Behinderung aufeinander zugehen, Bedarfe erörtern und Vorgehensweisen miteinander absprechen“ (S. 7). Aber welche Wissens- und Erfahrungsgrundlage haben Lehrende überhaupt zum Thema Nachteilsausgleiche und welche Unterstützung erfahren sie diesbezüglich von der Hochschule?
Vorgehen
In einer Pilotstudie wurden mittels Onlinebefragung N = 73 Hochschullehrende zu ihrem Wissen und ihren Erfahrungen bezüglich Nachteilsausgleichen für Studierende mit Behinderungen sowie zu Informationsquellen und Informationsbedarfen zu diesem Thema befragt.
Ergebnisse
Erst 22 Prozent der Befragten wurden im Rahmen ihrer Lehrveranstaltungen bereits mit einem Antrag auf Nachteilsausgleich konfrontiert. Die überwiegende Mehrheit der Anträge bezog sich dabei auf Nachteilsausgleiche für Prüfungen. 81 Prozent der Dozierenden mit konkreten Vorerfahrungen gaben an, dass die Umsetzung von Nachteilsausgleichen positiv und für alle Parteien zufriedenstellend verlief. Als einzelne Probleme wurden der zusätzliche Aufwand und die späte Anmeldung von Bedarfen durch die Studierenden thematisiert. Auch wenn die meisten Befragten, zumindest einen Teil der Möglichkeiten kannten, sich über Nachteilsausgleiche zu
informieren, hatten nur 14 Prozent das Gefühl gut über die entsprechenden Regelungen an ihrer Hochschule bescheid zu wissen. Tatsächlich wussten auch nur 15 Prozent, dass Studierende keinen anerkannten Grad der Behinderung brauchen, um Nachteilsausgleiche in Anspruch zu nehmen. Nur vier Prozent hatten das Gefühl, dass sie Studierende in Bezug auf Nachteilsausgleiche beraten könnten. Dementsprechend wünschten sich 85 Prozent der Befragten mehr Beratung und Information zu dem Thema – insbesondere zur Gruppe der Anspruchsberechtigten, zu konkreten Formen von Nachteilsausgleichen sowie zur Verantwortung und Rolle der Lehrperson. Nur elf Prozent gaben an, ihre Studierenden proaktiv über die Möglichkeit von Nachteilsausgleichen zu informieren. Viele hatten über die Möglichkeit noch nie nachgedacht oder fühlten sich selbst nicht ausreichend informiert.
Diskussion
Die Ergebnisse zeigen, dass Dozierende trotz ihrer wichtigen Rolle bei der Bekanntmachung und Umsetzung von Nachteilsausgleichen schlecht zu dem Thema informiert sind und selten eine proaktive Rolle einnehmen. In den offenen Kommentaren wird deutlich, dass die Verantwortung für das Thema teilweise an die Hochschulen zurückggegeben wird (wir brauchen mehr Information und Unterstützung), zum Teil aber auch an die Studierenden (die, die es betrifft wissen schon was sie brauchen und wie sie es bekommen). Zudem deutet sich als Spannungsfeld an, dass die Dozierenden Mehraufwand befürchten, den sie nicht leisten können.
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- Nachteilsausgleich
- Qualifizierung
- Studierende mit Behinderungen
- inklusive Hochschuldidaktik
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Liebe Frau Bauer, vielen Dank für ihren Einblick in dieses spannende Thema. Studierende die einen Nachteilsausgleich beantragen brauchen sehr viel Geduld. Studierende werden genötigt ihre Diagnose Preis zu geben und machen sich für mäßig schlechte Erfolgsaussichten zum Bittsteller. In der Regel sind chronisch Kranke und Menschen mit Behinderung/Einschränkung Experten in eigener Sache. Sie werden nur leider nicht wie Experten behandelt. Die Erfahrungen der Studierenden sind so gravierend, dass es mich immer wieder wundert, das es nicht öfter thematisiert wird. Auch in wissenschaftlichen Arbeiten. Für sie alles Gute.
Vielen Dank für den intressanten Einblick in Ihre Studier. Ein spannendes und zugleich nicht leichtes Thema. Um Studierende in der Lehrveranstaltung über mögliche Nachteilsausgleiche beraten zu können, müsste der Lehrende sich meines Erachtens nach mit den einhergehenden Beeinträchtigungen der Krankheit/Behinderung des Studierenden auskennen und die passende Ausgleichsmögligkeit für den Nachteil anbieten. Dafür müsste unter anderem am Anfang der Lehrveranstaltung erfragt werden, wen das überhaupt betrifft. Da wäre ich mir unsicher, ob es in Zeiten der neuen Datenschutzgrundverordnung überhaupt gewünscht ist. Vielleicht sollten vielmehr die Mitarbeitenden einer Institution regelmäßig über institutionelle Angebote für Menschen mit Behinderungen informiert werden.
LIebe Frau Groß, danke für Ihren Kommentar! Hier noch ein paar Gedanken dazu:
Der Rolle der Lehrenden beim Thema Nachteilsausgleiche wird bisher wenig Beachtung geschenkt, sodass häufig unklar ist (auch für die Lehrenden, wie man in der Befragung sieht) wie sich diese Rolle gestaltet. Lehrende sind weder diejenigen, die über Nachteilsausgleiche entscheiden (Zuständigkeit Prüfungsämter) noch diejenigen, die primär zu diesem Thema beraten können und sollten (Zuständigkeit Beauftragte für Studierende mit Behinderungen oder Beratungsstellen bzw. Prüfungsämter). Wie ich im Beitrag zum Tagungsband noch etwas ausführlicher darstellen möchte, sind aus meiner Sicht vor allem drei Aspekte von Relevanz. Lehrende sollten:
1. Alle Studierenden frühzeitig und proaktiv auf die Möglichkeit von Nachteilsausgleichen hinweisen und sie ermutigen, diese bei Bedarf auch in Anspruch zu nehmen (Studierende schrecken hiervor unter anderem auch zurück, weil sie es sich nicht mit den Dozierenden „verscherzen“ wollen)
2. Studierende auf den korrekten Antragsweg (über Prüfungsamt) und ggf. zusätzliche Beratungsmöglichkeiten (Beauftragte und Beratungsstellen) hinweisen und keine informellen Wege wählen
3. Inhaltlich-fachliche Expterise bezüglich der Gestaltung des konkreten Nachteilsausgleichs einbringen und ihn (in Verantwortung des Prüfungsamtes) ggf. umsetzen